CD – Kindertotenlieder, Cutting Edge

Wo Musik aufhört Musik zu sein, da verortet die deutsche Sopranistin Anne Schwanewilms Mahlers ‚Kindertotenlieder‘. Sie bezeichnet den fünfteiligen Zyklus als fünf Stadien eines Trauerprozesses, in dem das ganze Gefühlsspektrum – von unerhörtem Leid bis Ungläubigkeit, von Grauen bis Wut enthalten ist. Mit dem Begleiter Malcolm Martineau wird der 25-minütige Abschied ein intimer Dialog, in dem Stimme und Klavier sich ergänzen im Zaudern und Suchen. Die pure Sprachlosigkeit wird Klang, das lässt den Zuhörer stumm zurück.

Viel mehr als in der Orchesterfassung, bringt diese Version dem Zuhörer den amorphen Kern des Mahler’schen Gefühlslebens nah. Ohne die glanzvollen Farben und die Schmerzen mildernden Details der Orchestrierung, haben wir hier die ehrliche Quelle. Das ist ideal für jemanden wie Schwanewilms, die nicht davor zurückschreckt, sich unendlich verletzlich zu zeigen. Ihre Mischung von Energie und Zerbrechlichkeit in ‚In diesem Wetter‘, ihre mütterliche Wärme in ‚Wenn dein Mütterlein‘, ihre unirdische Poesie in ‚Nun will die Sonn‘ so hell aufgeh‘n‘ – das lässt eine vollkommenere Interpretation der Kindertotenlieder eigentlich undenkbar erscheinen.

Auch die Rückert-Lieder sind übrigens perfekte Sujets für die emotionale Tiefe, die Schwanewilms jedes Mal wieder entwickelt. Die religiöse Ekstase von ‚Um Mitternacht‘ ist ein phänomenaler Höhepunkt, das über alles Lob erhabene ‚Ich bin der Welt abhanden gekommen‘ ein Augenblick, in dem die Zeit das Dasein anzuhalten scheint. Immer spürt und ergänzt Martineau den Sopran ganz großartig. Auch seine künstlerische Herangehensweise ist nie nur darauf beschränkt, das lyrische Potential auszuschöpfen, sondern im Gegenteil darauf gerichtet, eine klare Palette der Gefühle zu entwickeln. 

Das leichtere Material, wie ‚Scheiden und Meiden‘, gelingt Schwanewilms weniger glänzend, obwohl das Duo auch hier Mahlers herzhafte Charakterisierungen außerordentlich gut beherrscht. Außerdem sollte auch ‚Liebst du um Schönheit‘ nicht unerwähnt bleiben als ein unstrittiger Höhepunkt. Kurzum, diese Aufnahme wird zweifellos eine der Mahler-Referenzaufnahmen für die kommenden Jahre sein. 

Als Vorspiel zu Mahlers vielfältigen Blicken auf das Herzeleid hat Schwanewilms das Opus 2 von Schönberg ausgewählt. Die eher mystische Vorlage füllt der Sopran mit Tönen voller Rätsel während Martineau sie, mit dem Takt, den er nun mal in den Fingern hat, eher entstaubt. Wenn das gemeinsame Musizieren auf diesem Album mit einer ungewohnt intensiven ‚Erwartung‘ (Nomen est Omen, nicht wahr?) begann, dann endet dies Recital mit einer beispiellosen doppelten musikalischen Offenbarung. Amen.

Jan-Jakob Delanoye
© Cutting Edge – 2 augustus 2015