„Die Kindertotenlieder singen, ohne dass Zorn und Schmerz die Stimme ersticken“

Anne Schwanewilms über ihre Annäherung an den Liederzyklus

Lange Zeit hatte ich einen zwiespältigen Zugang zu Mahlers Kindertotenliedern, fragte mich: Kann man sich singend mit dem Tod der eigenen Kinder und den damit verbundenen Schmerzen auseinandersetzen? Kann und will ich das? Wie lasse ich diese starken Gefühle der Trauer und Wut zu, ohne dass sie meine Stimme ersticken? Die historische Annäherung an das Werk verstärkte diese Gefühle: Friedrich Rückerts Kinder Luise und Ernst starben kurz hintereinander im Winter 1833 auf 1834. Unter diesem Eindruck schrieb er 428 Kindertotengedichte, eine Zahl, die das Ausmaß seines Schmerzes ahnen lässt. Wie Rückert hat Gustav Mahler den Tod als mächtig erleben müssen: Von seinen elf Geschwistern starben sechs im Kindesalter. Als Mahlers Tochter Maria Anna 1907 vierjährig starb, hatte Mahler die Kindertotenlieder schon komponiert, nämlich in den Jahren 1901 und 1904.

Einen ganz neuen Zugang zu den Liedern ermöglichten mir die Arbeiten der beiden Psychologen Elisabeth Kübler-Ross (1926–2004) und Peter Levine (geboren 1942), die sich beide mit den Prozessen des Sterbens und des Trauerns befassen. Sie beobachteten und beschrieben unterschiedliche Abschnitte im Verlauf des Sterbens und definierten auch bei Trauernden verschiedene Phasen der Trauerarbeit. Diese Erkenntnisse werden heute in der Therapie für Trauernde eingesetzt. So unterscheidet Kübler-Ross fünf Sterbephasen (deren Reihenfolge nicht festgelegt ist) und fünf Entwicklungsschritte im Prozess des Loslösens bei Trauernden.

Ich denke, dass Mahler in den Liedern seine eigene Erfahrung von Trauerarbeit komponierte, und es erscheint mir nicht als zufällig, dass er das in fünf Liedern tut. Ich sehe in der Abfolge der fünf Kindertotenlieder fünf unterschiedliche Entwicklungsphasen der Trauer. In ihnen stehen Klavierstimme und Gesangsstimme zueinander wie eine innere Stimme, die dem Instinkt entspricht, und eine äußere Stimme, die mit der Realität ringt und die Erkenntnis mehr und mehr zulässt.

Die erste Phase der Ablösung ist durch ein Nicht-Wahrhaben-Wollen charakterisiert. In „Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n“ setzt Mahler das Klavier wie eine innere Stimme ein, die den Trauernden begleitet. Es nimmt ihn ganz zart an die Hand und versucht, ihn in die Realität zu führen, ihm zu sagen, dass die Nachricht vom Tod des Kindes Wirklichkeit ist. Der Betroffene will sich jedoch dieser Wahrheit nicht stellen, er lenkt durch Naturbeschreibungen von ihr ab.

Das Lied „Nun seh’ ich wohl, warum so dunkle Flammen“ entspricht einer Phase, in der der Trauernde Zorn und Ärger empfindet. Die Einsicht in die Wirklichkeit setzt sich mehr und mehr durch, wenn auch mit Rückschritten, und diese Einsicht löst Wut und Zorn aus. Die innere Stimme, das Klavier, lässt hier Zweifel und Wut zu, braucht aber, verglichen mit der ersten Phase, keine vorsichtige Begleitarbeit mehr zu leisten.

Im dritten Lied „Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein“ (bzw. in der dritten Phase) ist der Trauernde ambivalent: Einerseits versenkt er sich träumerisch in eine Situation als das Kind noch lebte. Er erinnert sich an die Vergangenheit, wohl wissend, dass sie vergangen ist. Trotzdem bricht im Moment der Bewusstwerdung wieder tiefe Trauer aus. Das Klavier, die innere Stimme, ist völlig konform mit dem Trauernden, kann Traum und Wahrheit trennen.

In der vierten, der depressiven Phase denkt der Trauernde auch im Wachen, also bewusst, an die Vergangenheit, als das Kind noch lebte: „Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen“. Er holt eine wahre Begebenheit zurück, nämlich den Moment, als das Kind einmal zu spät nach Hause kam. Das Klavier, die innere Stimme, lässt zugleich Zweifel darüber zu, dass dies Ereignis wirklich in der Vergangenheit liegt, und die Worte „Wir holen sie ein auf jenen Höh’n“ trösten. Dieser Trost wird allerdings am Schluss durch Textwiederholung und die dynamische Steigerung im Klavierpart wieder in Frage gestellt.

Mit „In diesem Wetter, in diesem Braus“ ist die fünfte und letzte Phase, die der Akzeptanz, erreicht. Der Trauernde lässt die Erkenntnis dessen, was geschehen ist, zu, er nimmt die Situation auch körperlich wahr, kann Vorwürfe, Zorn und seine Schuldgefühle aussprechen. Aber er sehnt sich jetzt danach, sich mit der Realität zu versöhnen, Ruhe zu finden. Das Klavier formuliert den Wunsch nach Frieden zuerst, der Trauernde findet dann auf den gleichen Text, den er vorher wütend herausgeschrien hat, eine ruhige Melodie, einen, vielleicht vorläufigen, Frieden.

In seinen Gedichten versuchte Rückert, Trost zu finden und das Schicksal zu verstehen. Mahler folgt ihm darin, indem er sich quasi durchringt von der Trauer, mit der er im ersten Lied in d-moll beginnt, zum D-dur des fünften Liedes. In diesem letzten Lied zitiert er das Thema des Finales seiner dritten Sinfonie, das dort überschrieben ist: „Was mir die Liebe erzählt“. Sowohl für Rückert als auch für Mahler war die Liebe mächtiger als der Tod. Hier treffen sich die musikalische und die psychologische Interpretation von Text und Musik, und mit diesen Überlegungen habe ich mir die Kindertotenlieder zu eigen gemacht.

Anne Schwanewilms, 2015

(Aus dem Booklet der CD – Mahler & Schoenberg, Onyx 2015)