Singen ohne Effekthascherei (Straßburg 2008)

Es gibt einen, heute fast vergessenen, Stammbaum von Sopranistinnen, der mit Anne Schwanewilms wieder aufgeblüht ist; er geht hinter Elisabeth Grümmer zurück zu Tiana Lemnitz, Meta Seinemeyer und ganz besonders zu Delia Reinhardt, nämlich zu allen denen, die es verstanden, durch ihre Zurückhaltung und ihre Beherrschtheit ein Leuchten von der Bühne ausgehen zu lassen. Kein einziger unnötiger gestischer oder stimmlicher Effekt. Sie lassen die Musik und die Worte sprechen, drücken sich in diesen aus und nehmen sich selbst zurück. Der fließende Klang der Stimmfärbung und die natürliche Ausstrahlung genügen solchen Sängerinnen, um jene Anteilnahme herzustellen, die die wahrste von allen Formen der Verständigung ist. 

Es gab solche großartigen Momente zuerst in Glyndebourne – Szenen, in denen allein die Nähe schon berührte: In der Euryanthe entdeckte sie das verloren geglaubte Geheimnis der Heldin wieder, deren stille, leuchtende Spiritualität das Modell für Wagners Elsa wurde. Das Wüten und die Verrücktheit ihrer Elettra in Idomeneo brachten mit beherrschter Verzweiflung die inneren Qualen einer widersprüchlichen Seele ans Licht. Es ist kein Wunder, dass sich die Charaktere von Richard Strauss mit ihrer Lebendigkeit und in ihrer seelischen Mehrschichtigkeit, inspiriert von den Worten und den Gefühlen, die ihnen Hofmannsthal mitgegeben hat, einer Künstlerin aufgedrängt haben, die es vermag, alles zu auszudrücken, indem sie gerade genug sagt. Nach ihrem Wechsel vom Mezzosopran (…) zum Sopran kann sie Rollen auswählen, die eher schweben als verblüffen und wählt ihren Weg nunmehr an der Seite der Desdemona, lieber als der Senta. Sie ist auch Strauss’ Chrysothemis gewesen (die jüngste und natürlichste seiner Heldinnen, die am wenigsten erfahrene), Ariadne – und endlich die Marschallin.

Es war gegen Ende des Ersten Aktes auf der unglücklichen Bühne der Bastille Oper [Paris, Der Rosenkavalier, Januar 2006], als sich die hyperaktive Inszenierung endlich beruhigte und die göttliche Musik der Nachdenklichkeit und des Alleinseins, von Philippe Jordan ideal transparent dirigiert, endlich beginnen konnte. In diesem Augenblick hob sich der Vorhang wirklich über diesem Rosenkavalier: Mit diesem Monolog wurde der magische Symbolismus von Worten und Musik wahr, wurde sinnfällig. Eine gespannte Stille ergriff ein Haus, dessen Akustik bis zu diesem Moment aus Metall gewesen zu sein schien. Jetzt war alles wie Honig und Seide, Melancholie, eine zarte Entfremdung. Irgendwo im Himmel muss Hofmannsthal geweint haben, Strauss hingegen lächelte. Dieses Wunder dauerte eine halbe Stunde.

In Salzburg, in der sehr andersartigen, gefährlichen und gewagten Rolle der Carlotta Nardi in Schrekers Die Gezeichneten, knüpfte Schwanewilms an die Spitzenleistung der Delia Reinhardt (die Haltung und Reserviertheit in Person war) an: In einem ganzen langen Akt bewahrte sie eine klassische Balance und außerordentliche Haltung, anfangs vornehm und zurückhaltend, und dann, wenn sie sich offenbart und opfert, glühend. Wenn eine Künstlerin diese seltene Gabe hat, auf der Bühne die vermeintlichen Grenzen (oder Widersprüche) zwischen Innen und Außen vergessen zu machen, dann steht ihr ein anderes Reich offen: Das Lied.

Aus einem Artikel von Andre Tubeuf (Verfasser von “Wagner et Bayreuth”, “Le Lied Allemand” und „Richard Strauss, ou le Voyager et son Ombre“) im Programmheft für den Liederabend in der ‚Opera National du Rhin’, Straßburg, März 2008.